Politisch diskutieren am Beispiel

Frage: Wie bewertet ihr die Grenzkontrollen?

Hintergrund: “Vorübergehende Binnengrenzkontrollen an allen deutschen Landgrenzen zum Schutz der inneren Sicherheit und zur Reduzierung irregulärer Migration ab 16. September 2024” mehr

Ein paar Meinungs-Beispiele gesammelt:

  1. Meinung: Grenzkontrollen sind grundsätzlich in Ordnung.
  2. Meinung: Sozialdemokraten und Grüne zeigen hier ihr wahres rassistisches Gesicht. Ich finde das ekelhaft.
  3. Meinung: Die Opposition, angeführt von CDU, erzwingt ein Handeln. Die Grenzkontrollen sind Ausdruck eines demokratischen Verständnisses in der Regierung, wonach auch politische Forderungen der Opposition Eingang in die Politik finden müssen.
  4. Meinung: Die Grenzkontrollen sind ein Schritt zurück.
  5. Meinung: Die Grenzkontrollen fördern Racial Profiling, diskriminieren Ausländer, schaden den Grenzregionen und liefern letztlich Reisende polizeilicher Willkür aus.
  6. Meinung: Die Grenzkontrollen schaden der AFD, weil die Leute hier erleben wie nachteilig die Politik ist.
  7. Meinung: Die Grenzkontrollen nutzen der AFD, weil sie sich mit ihren Methoden durchsetzt.
  8. Meinung: Durch die Grenzkontrollen wird Deutschland sicherer.
  9. Meinung: Durch die Grenzkontrollen wird Sicherheit suggeriert.

Diskussion im Bekanntenkreis (Familie, Freunde, Verein, Arbeit)

Ich finde im Bekanntenkreis kann man über alles reden und natürlich auch Argumente austauschen. Schwierig wird es, wenn die Gesprächspartner:in mit Fehlinformationen präpariert ist und man daher keinen guten Startpunkt findet (siehe Forum “Lage der Nation” ). Ansonsten gilt: In einer philosophischen Debatte gewinnt immer der Verlierer – nämlich, ein gutes Argument.

Diskussion in der Öffentlichkeit (z.B. in Social Media)

Populisten werden an der ein oder anderen Stelle existierende Meinungen aufgreifen und in ihre Erzählung einbauen. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass es Populisten  in der öffentlichen Debatte nicht um den Austausch von Argumenten geht, sondern darum, Stimmung zu machen um eine bestimmte Zielsetzung zu erreichen, die mit der eigentlichen Sache manchmal gar nichts zu tun hat und alles andere als lösungsorientiert ist (vgl. LTI – Notizbuch eines Philologen, Viktor Klemperer, 1975).

In der Öffentlichkeit ist die Tabuisierung und Sichtbarmachung eine wichtige Strategie (auch gegen populistischen Unsinn). Über bestimmte Signale  (z.B. Fahnen, bestimmte Begriffe, zur Schau gestellte Verhaltensweisen, Ausdrucksweisen,  etc.)  kann eine Gruppenzugehörigkeit erzeugt werden. Auf diese Weise können Diskursräume zurück erkämpft werden. Der Gegner kann gleichzeitig sprachlich und habituell entlarvt werden.

Auf der anderen Seite können allzu plakative Äußerungen auch instrumentalisiert werden. Gruppenstiftende Signale (s.o) können auch ins Gegenteil umschlagen und dazu führen, dass die Gruppe zersplittert.  Solche Prozesse können sogar durch die Gegenseite initiiert werden. In guter Absicht arbeitet man, ohne es zu merken den Populisten zu. Über Details verliert man sich in endlosen Debatten und gibt schließlich entkräftet und einsam auf.

Die Rolle der Gewalt

Ein anderer Aspekt. Öffentlich gemachte Äußerungen können sich verselbständigen. Es droht Vereinnahmung, Ausgrenzung, Beleidigung und Überforderung. Sogar Gewaltandrohungen können die Folge sein.

Im Extremfall bleibt es nicht bei Worten und Personen geraten ins Visier. Es kommt zu Stalking, Einschüchterungen, Sachbeschädigungen, Nötigungen, Brandstiftungen, Körperverletzungen und Mord. mehr

Wenn die Androhung von Gewalt im Raum steht, ist die philosophische Diskussion beendet.

Gewalt ist eine wichtige Komponente, die die Diskursregeln in der Öffentlichkeit mit prägt. Wer sich heute einer öffentlichen Diskussion stellt, kann zur Zielscheibe werden. Dies beeinflusst den Diskurs.

Zusammenführung

Argumente können im persönlichen Austausch helfen Dinge besser zu verstehen.

Der öffentliche Raum gehorcht anderen Gesetzen. Argumente werden oft instrumentell verwendet. Es geht nicht um Erkenntnisgewinn. Es geht oft darum Themensetzung und die Gestaltung des Diskursraums zu beeinflussen.

Ich finde es schade wenn Diskursgewohnheiten aus dem Bereich Social Media (Öffentlichkeit) auch in die private Debatte übernommen werden. z.B.

  1.  Meinungsäußerungen werden tabuisiert oder vorschnell einem bestimmten Weltbild zugeordnet.  Dabei können Einzelmeinungen zu Teilaspekten eines Sachverhaltes oft ganz unterschiedliche kombiniert werden (siehe oben).
  2. Es wird gar die Berechtigung abgesprochen sich zu einem Thema zu äußern oder auszutauschen (z.B. aufgrund mangelnder Expertise, fehlender Erfahrung, etc.). Während dies für den öffentlichen Raum eine valide Feststellung sein kann, ist es für das private Gespräch Gift.

Umgekehrt empfinde ich es oft als fahrlässig, wenn in Social Media Dinge  publiziert werden, die sich allzu leicht instrumentalisieren lassen oder einfach nur polarisierend und emotionalisierend wirken und sich nicht gegen populistische Vereinnahmung abgrenzen.

Ich merke, dass ich zunehmen gereizt reagiere, wenn ich im privaten mit social-media-artig aufgezogenen Diskursen konfrontiert werde und mich darin/dazu verhalten muss. Auch erliege ich natürlich selbst immer wieder der Verlockung eine private Äußerung vorschnell so einzusortieren, so als wäre sie Teil einer größeren öffentlichen Debatte. Mein Gegenüber ist dann zu Recht brüskiert: “Ich suche den Austausch und du hältst mich für einen Fundamentalisten”,  “Ich wollte mich nur unterhalten und Du legst gleich jedes Wort auf die Goldwaage.”, “Ich soll mich von Dingen abgrenzen, die mir klarerweise – du kennst mich schließlich – erst gar nicht unterstellt werden dürften.” etc.

Und was ist jetzt meine Meinung zu den Grenzkontrollen?

Ich denke das 1 ein rechtliches Thema ist (würde ich den Juristen überlassen) und bin überzeugt, dass 4 gilt und 9 vermutlich zutrifft. Ich habe Angst, dass  7 stimmt. Ich würde 5 als Einwand äußern und wünsche mir hierüber eine breite Debatte. Ich tendiere eher dazu 3 als 2 als Interpretationsrahmen zu setzen. Bei 2 würde ich den Vorwurf in jedem Fall auf die Opposition erweitern, ansonsten verstehe ich nicht was gemeint ist.

Referenzen

https://dserver.bundestag.de/btd/20/103/2010381.pdf

https://dserver.bundestag.de/btd/20/121/2012101.pdf

https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw27-de-grenzkontrollen-1011514

https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2293460/40979efa1760c4094cb1826984c6f42b/2024-06-21-top5-1-migration-data.pdf?download=1

https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2024/09/binnengrenzkontrollen.html

https://wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2024&zeigeErg=Land

https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/324634/rechtsextreme-gewalt-in-deutschland/

https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus

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